„Ich müsste das doch längst können.“
„Das muss perfekt werden, sonst ist es eh nichts wert.“
„Wenn ich es nicht richtig mache, lasse ich es lieber ganz.“
Kennst Du diese Erwartungen und Gedanken? Willkommen im inneren Spannungsfeld zwischen großen Erwartungen, überhöhten Ansprüchen und dem starren Korsett des Perfektionismus. Oft erscheinen diese Gedanken als eine Art innere Motivation – aber in Wirklichkeit sind sie nichts anderes als eine Falle, die uns immer wieder in Stress, Selbstzweifel und Ausgebranntsein führt.
Ein einfacher fast poetischer Satz, hat hierzu mein Denken vor längerem verändert: „Perfektion schafft Aggression und killt damit Kreativität“
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Perfektionismus: Wenn das Streben nach Exzellenz zur Verengung und Qual wird
Perfektion an sich ist nicht unbedingt schlecht. Ich habe auch ein Blick für Ästhetik, das Schöne und die kleinen Details. Es ist vielmehr die Art und Weise, wie wir mit diesem Ideal umgehen, die problematisch wird. Perfektion-Ismus – das ständige Streben nach einem weit entferntem Ideal, es ist wie ein verengtes Blickfeld. Eine Verengung unserer inneren Welt. Wir fühlen uns gezwungen, in allem, was wir tun, höchste Standards zu setzen, was zu einer emotionalen Belastung führt.
Perfektionismus ist selten eine Quelle der Freude. Stattdessen ist er oft ein innerer Druck, der uns von unserer wahren Leistungsfähigkeit in jeglichen Belangen abhält, ob in Sport auf der Arbeit oder auch bei dem Gestalten eines Dates.
Ein Perfektionist lebt selten im Moment. Er lebt im Soll – in einem ständigen Abgleich mit einem inneren Idealbild, das oft diffus und unerreichbar ist oder messscharf klar aber verengt ist. Doch woher kommt dieses Ideal eigentlich?
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Die Wurzeln: Unbewusste Erwartungen an uns selbst
Der Ursprung von Perfektionismus liegt oft nicht in äußeren Erwartungen, sondern in den unbewussten Erwartungen, die wir an uns selbst stellen. Oft glauben wir, der Druck komme von außen – von Vorgesetzten, Kunden oder der Gesellschaft. Doch die Wahrheit ist, dass unsere eigenen (häufig unbewussten) Erwartungen oft der härteste Richter sind.
Diese unbewussten Glaubenssätze, die wir im Laufe der Zeit entwickelt haben, prägen unsere Wahrnehmung und unser Verhalten. Glaubenssätze wie:
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- „Ich muss immer stark sein.“
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- „Ich darf keine Fehler machen.“
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- „Ich muss es besser machen als andere.“
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- „Ich will mich beweisen“
Diese Ideen entstehen meist in der Kindheit oder Jugend, wenn wir in bestimmten Momenten das Gefühl hatten, Anerkennung nur durch Leistung und „Vollkommenheit“ zu erhalten. Im Laufe der Jahre verfestigen sich diese Gedanken zu festen Glaubenssätzen, die uns bis ins Erwachsenenalter begleiten. Und so wird das Streben nach Perfektion zu einer scheinbaren Notwendigkeit – und wir sind uns oft nicht einmal bewusst, wie sehr wir uns selbst in eine schmerzhafte Enge manövrieren.
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Hohe Ansprüche führen nicht nur zu Druck – sie fördern auch Prokrastination
Ein weiterer oft übersehener Effekt von Perfektionismus: Er lässt uns aufschieben. Denn je höher unsere Ansprüche sind, desto schwerer fällt es, überhaupt anzufangen. Warum?
Zum einen fehlt uns das Anlaufmomentum, der Schwung. Wenn die Aufgabe groß, komplex oder „perfekt“ erledigt werden soll, wirkt sie wie ein riesiger Berg. Aus dem „kalten Zustand“ heraus haben wir nicht die nötige Energie, um sofort loszulegen. Wir brauchen eine Art Anlauf, kleine Schritte, die uns in Bewegung bringen, bevor wir überhaupt ans Ziel denken.
Zum anderen denken wir häufig sofort an das große Ergebnis, anstatt uns auf den ersten machbaren Schritt zu konzentrieren. Unser Kopf springt direkt zu der Vorstellung, wie perfekt das Endergebnis sein muss – anstatt uns zu fragen: Was ist der nächste kleine Schritt, den ich jetzt tun kann? Mach es so simple wie Kaffee kochen.
Das Paradoxe: Gerade weil wir alles so perfekt machen wollen, tun wir erst einmal gar nichts. Das Ergebnis? Frust, schlechtes Gewissen und noch mehr Druck. Ein Teufelskreis.
Tipp: Wenn Du merkst, dass Du aufschiebst, weil Dein Anspruch zu hoch ist, frage Dich: Wie kann ich heute einfach nur anfangen? Was wäre der kleinste, leichteste Schritt?
Schon fünf Minuten Beschäftigung mit der Aufgabe können das Momentum aufbauen, das Du brauchst, um in den Flow zu kommen – ohne Dich vom Perfektionsdruck lähmen zu lassen.
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Die Konsequenz: Der Flow bleibt auf der Strecke
Doch Perfektionismus hat auch eine dunkle Seite. Er zerstört den Flow, das Gefühl von Leichtigkeit und Hingabe in Tun. Denn Flow entsteht nicht, wenn wir an einem festgelegten Ziel festhalten, das mit dem perfekten Ergebnis verknüpft ist. Flow entsteht, wenn wir im Moment präsent sind und uns mit einer offenen Haltung dem Tun und Machen einfach hingeben können, wie damals als Kind beim Spielen, Entdecken und Erforschen.
Warum?
Weil Flow etwas ist, das sich entwickelt. Es braucht Neugier, Leichtigkeit, ein offenes Spielfeld. Doch wenn Du mit einer festen Zielvorstellung startest – mit dem Bild, wie es „am Ende perfekt sein soll“, dann engst Du Dich im Vorfeld ein. Du verlierst die Freude am Tun.
Du kämpfst nicht mit dem Thema oder der Aufgabe, sondern mit Dir selbst. Du misst Deine Leistung ständig an einem Ziel, das Du nicht vollständig kontrollieren kannst, was zu Frustration und Stress führt. Und der Spaß geht „flötten“.
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5 Impulse für mehr Leichtigkeit und Freiheit
Wie kannst Du Dich aus diesem Kreislauf befreien? Hier sind fünf wichtige Impulse, die Dir helfen können, den Druck zu reduzieren und den Perfektionismus abzulegen:
1) Werde wieder Anfänger.
Es gibt Bereiche in Deinem Leben, in denen Du bereits ein Profi bist. Aber es gibt auch viele Bereiche, in denen Du gerade erst beginnst. Beginner’s Mind bedeutet, eine Haltung der Offenheit und Neugier zu entwickeln. Anstatt sofort hohe Erwartungen an Dich selbst zu stellen, sei bereit, Fehler zu machen und aus ihnen zu lernen. So entwickelst Du nicht nur Wissen und Fähigkeiten, sondern auch die Fähigkeit, das Leben in seiner vollen Bandbreite zu genießen.
2) Steigere Deine Ansprüche langsam
Es ist nicht notwendig, gleich zu Beginn das Maximum von Dir zu verlangen. Wachse Schritt für Schritt. Beginne mit kleinen, realistischen Zielen und steigere Deine Ansprüche allmählich. Die „kleinen Siege“ bauen Vertrauen auf und schaffen die Grundlage für weiteres Wachstum.
3) Übertrage nicht überall den gleichen Maßstab.
Jeder Lebensbereich ist einzigartig. Du musst nicht in allem der Beste sein. In manchen Bereichen des Lebens – sei es in der Karriere oder im sozialen Leben – darfst Du ruhig Anfänger sein. Lass los vom Drang, in allen Bereichen Deines Lebens gleichzeitig „perfekt“ zu sein.
4) Erkenne Deine unbewussten Erwartungen.
Höre auf die innere Stimme, die Dir sagt, was Du „müssen“ solltest. Nimm Dir regelmäßig Zeit, um zu reflektieren: Welche unbewussten Erwartungen trägst Du? In welchen Bereichen setzt Du Dir selbst zu hohe Maßstäbe? Indem Du Deine inneren Glaubenssätze erkennst, kannst Du anfangen, Dich von ihnen zu lösen und mehr Flexibilität in Dein Leben zu bringen.
5) Löse den Anspruch von Deinem Wert.
Du bist nicht weniger wert, weil Du etwas nicht perfekt machst. Dein Wert als Mensch ist nicht an Deine Leistung geknüpft. Du bist wertvoll, weil Du Du bist. Es ist an der Zeit, diesen Glaubenssatz tief in Deinem Inneren zu verankern
Exkus: Die Falle des „Abnehmens“ statt Delegierens
Eine weitere Facette des Perfektionismus, die oft übersehen wird, ist die Tendenz, Aufgaben lieber selbst zu übernehmen, anstatt sie zu delegieren. Auch wenn Delegieren eine wichtige Fähigkeit ist, um als Führungskraft oder Unternehmer langfristig erfolgreich zu sein, erleben viele Menschen, insbesondere Perfektionisten, eine unbewusste Blockade.
Warum ist das so?
Es fühlt sich oft sicherer an, die Kontrolle zu behalten und Aufgaben selbst zu erledigen. Du weißt, dass es „am Ende so wird, wie Du es willst.“ Doch hinter dieser Haltung steckt oft ein tieferer Glaubenssatz: „Wenn ich es nicht selbst mache, wird es nicht gut genug sein.“ Oder, noch unbewusster: „Ich bin der Einzige, der es wirklich gut machen kann.“
Dieser Gedanke hält Dich jedoch in einer Schleife der Überlastung gefangen. Während Du immer mehr Verantwortung auf Deine Schultern nimmst, erdrückst Du Dich selbst und bremst Dein Wachstum. Letztlich ist es eine Form der Selbstüberschätzung – Du glaubst, dass Du alles perfekt machen musst, anstatt anderen zu vertrauen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und sie in den Prozess einzubeziehen.
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Übung: Wo sind Deine Ansprüche zu hoch?
Ziel: Finde heraus, in welchen Bereichen Deines Lebens Deine Ansprüche zu hoch sind und welche Auswirkungen dies auf Dein Wohlbefinden hat. Diese Übung hilft Dir, bewusster mit Deinen Erwartungen umzugehen.
Schritt 1: Mache eine Liste von Bereichen in Deinem Leben, in denen Du hohe Ansprüche an Dich selbst stellst. Das können Beruf, Beziehungen, Gesundheit oder persönliche Entwicklung sein.
Schritt 2: Frage Dich bei jedem Punkt:
– Was ist mein Ziel in diesem Bereich?
– Ist dieses Ziel realistisch oder sehr hochgesteckt?
– Wie fühlt es sich an, wenn ich an dieses Ziel denke?
– Was passiert, wenn ich dieses Ziel nicht erreiche?
– Wie beeinflusst dieser hohe Anspruch meinen Alltag?
Schritt 3: Überlege, wie Du die Ansprüche in jedem dieser Bereiche reduzieren kannst, ohne auf Klarheit oder gesundes Abgrenzen zu verzichten. Vielleicht hilft es, Dir gesunde Standards zu setzen, die Dir Klarheit und Abgrenzung bieten – zum Beispiel: „Ich gebe mein Bestes, aber ich erlaube mir auch, Fehler zu machen.“
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Standards: Klarheit und Abgrenzung statt ständiger Selbstkritik
Es ist wichtig zu verstehen, dass gesunde Standards in Deinem Leben von großer Bedeutung sind. Standards sind nicht das Gleiche wie Perfektionismus. Während Perfektionismus Dir das Gefühl gibt, ständig ungenügend zu sein, bieten gesunde Standards eine klare Abgrenzung und geben Dir eine Orientierung, wie Du Dein Leben gestalten möchtest.
Gesunde Standards sind nicht starr. Sie sind flexibel, realistisch und helfen Dir, in schwierigen Situationen einen klaren Kurs zu halten. Sie erlauben Dir, Dich selbst zu führen, ohne Dich zu zerreißen. Sie bieten Raum für Fehler und Wachstum.
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Fazit: Freiheit beginnt mit einem neuen Blick auf Dich selbst
Große Erwartungen und Perfektionismus sind keine Feinde – aber sie brauchen einen bewussten Umgang. Wenn Du lernst, Dich selbst wieder mit milderen Augen zu sehen und Deine Ansprüche an Dich selbst gesund zu justieren, entsteht Raum. Raum für Entwicklung. Für Freude. Für echte Verbindung mit Dir und anderen.
Du darfst wachsen – und dabei unperfekt sein.